Öffentliches Recht
8.1.22

Hat der Bundespräsident ein materielles Prüfungsrecht bei der Ausfertigung von Gesetzen?

Das ist eine Frage, die sich jeder Jurastudent im ersten Semester einmal stellen muss und die nicht selten als Klassiker durch Klausuren geistert. Einen aktuellen Fall hierzu gibt es selten. Nun ist es jedoch wieder einmal so weit.

Zwar hat der aktuelle Bundespräsident Steinmeier das Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit ausgefertigt, jedoch seine Bedenken im Hinblick auf die Verfassungsmäßigkeit geäußert und eine erneute Überprüfung durch den Bundestag gefordert. Der Gesetzesentwurf sieht vor den § 362 StPO um folgende Nummer zu ergänzen:

"Die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zuungunsten des Angeklagten ist zulässig, [...] 5. wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit früher erhobenen Beweisen dringende Gründe dafür bilden, dass der freigesprochene Angeklagte wegen Mordes (§ 211 des Strafgesetzbuches), Völkermordes (§ 6 Absatz 1 des Völkerstrafgesetzbuches), des Verbrechens gegen die Menschlichkeit (§ 7 Absatz 1 Nummer 1 und 2 des Völkerstrafgesetzbuches) oder Kriegsverbrechens gegen eine Person (§ 8 Absatz 1 Nummer 1 des Völkerstrafgesetzbuches) verurteilt wird.“

Der Entwurf trägt den passenden Namen "Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit". Grundsätzlich gilt im deutschen Strafrecht der Grundsatz "ne bis in idem". Das bedeutet, dass eine Person nicht zwei Mal wegen der gleichen Straftat verfolgt werden darf. Ist er also rechtskräftig freigesprochen, dann darf er nicht noch einmal wegen der Straftat angeklagt werden. Dieser Grundsatz findet sich in Art. 103 Abs. 3 GG wieder.

Wie man unschwer erahnen kann, ist der § 362 StPO eine Ausnahmevorschrift zu diesem Grundsatz, die bereits in vier Nummern Ausnahmen enthält. Nun soll also eine weitere Ausnahme hinzugefügt werden. Diese - das dürfte unstrittig sein - enthält im Gegensatz zu den ersten vier Nummern eine relativ niedrige Hürde für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens zuungunsten des Verurteilten. Hierbei reichen bereits neue Tatsachen oder Beweismittel bei den in der Norm aufgezählten Straftaten.

So weit so gut - wo liegen denn nun die verfassungsrechtlichen Bedenken?

Die Bedenken im Hinblick auf das neue Gesetz knüpfen an verschiedenen Punkten an, die wir nachfolgend jeweils kurz aufgreifen wollen.

Gesetzgebungsverfahren

Das Gesetzgebungsverfahren ist in Art. 76, 77 GG geregelt. Es teilt sich in das Einleitungs- und das Hauptverfahren. Gesetze werden danach erst in den Bundestag eingebracht, vom Bundestag und anschließend vom Bundesrat beschlossen.

Zuerst einmal gibt es schon formelle Verfassungsmäßigkeitsdiskussionen. Denn durch die Abweichung von dem Grundsatz aus Art. 103 Abs. 3 GG sehen Kritiker das Gesetz als Verfassungsänderung. Nach Art. 79 GG kann der Wortlaut des Grundgesetzes nur durch eine Zweidrittelmehrheit des Bundestages und des Bundesrates geändert werden. Die Frage, die sich hier nun stellt, ist, ob durch die Änderung der StPO tatsächlich der Art. 103 Abs. 3 GG geändert wird. Das hängt davon ab, ob der Wesens- und Grundgehalt dieses Artikels berührt wird - sicherlich ein diskussionswürdiger Punkt.

Verstoß gegen Art. 103 Abs. 3 GG

Im Unterschied zu den sonstigen Ausnahmen aus § 362 StPO schafft die Gesetzesänderung erstmals die Möglichkeit der Neuaufnahme eines verfahrensrechtlich ordnungsgemäß abgelaufenen Strafverfahrens. Dies hätte zur Folge, dass der rechtskräftige Freispruch bei den aufgeführten Taten faktisch keine Rechtskraft mehr besäße. Kritiker bezeichnen dies als "rechtskräftigen Freispruch auf Widerruf". Die Formulierung der neuen Beweismittel sei zudem vollkommen unbestimmt und eröffne einen viel zu weiten Rahmen für Wiederaufnahmen. Ein Freispruch in Bezug auf die aufgeführten Straftaten führe daher dauerhaft in einen rechtlichen Schwebezustand.

Auch diese Kritik erscheint nicht unberechtigt und wäre im Rahmen einer Klausur argumentativ aufzuarbeiten.

Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot

Das Rückwirkungsverbot verbietet neue Gesetze auf frühere Sachverhalte anzuwenden, Art. 103 Abs. 2 GG. Man unterscheidet zwischen echter und unechter Rückwirkung. Die echte Rückwirkung betrifft dabei Sachverhalte, die in der Vergangenheit begonnen haben und bereits vor Inkrafttreten des Gesetzes abgeschlossen sind.

Das Gesetz würde seinem Wortlaut nach auch auf vergangene Verurteilungen Anwendung finden. Insofern wären bereits rechtskräftige Urteile, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes ergangen und rechtskräftig geworden sind, mit § 362 Nr. 5 StPO angreifbar. Da es sich um abgeschlossene Sachverhalte handele, läge daher ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot vor, so die Kritiker. Freisprüche, die viele Jahre zurücklägen, könnten durch das neue Gesetz wieder aufgehoben werden.

Die Bedenken scheinen auf den ersten Blick durchaus berechtigt. Auch hier wäre in der Klausur ein argumentativer Schwerpunkt zu setzen.

Kann das in meiner Klausur drankommen?

Die Antwort hierauf ist eindeutig: Ja!

Das materielle Prüfungsrecht ist ein Klausurklassiker. In Kombination mit einem aktuellen Sachverhalt ist das Klausurprogramm vorprogrammiert. Auch wenn es noch keine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gibt, so bietet sich der Sachverhalt für staatsorganisationsrechtliche Semesterabschlussklausuren an. Nur zur Einordnung: Alle Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland haben insgesamt erst acht Mal die Ausfertigung eines Gesetzes verweigert. Auch wenn dies letztlich nicht der Fall war, ist der Sachverhalt als Klausur prädestiniert.

Wie kann ich mich auf diesen Fall vorbereiten?

Ganz einfach: in unseren aktuellen Fällen werden wir im Januar genau diesen Fall besprechen. Also einfach das Abo abschließen und perfekt vorbereitet in die Staatsorganisationsrechtsklausur gehen.

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